Die Kunstkritik, dargestellt von Herman Riegel | Xenia Fink

Grundriss der bildenden Künste, im Sinne einer allgemeinen Kunstlehre, und als Hilfsbuch beim Studium der Kunstgeschichte

dargestellt von Herman Riegel

Hannover, Carl Rümpler, 1875

S. 352

Die Kunstkritik

(…) Die Kritik (…) ist eine richterliche Arbeit (…), sie ist das Geschäft der Unterscheidung und Beurtheilung, so daß man sie in Bezug auf Kunstwerke deutlich auch die Kunstrichterei, den Kritiker aber, wie zu Lessing’s Zeiten, stets Kunstrichter nennt. Zwar kann es nicht in unserer Absicht liegen, hier eine Anleitung zum Kritisiren zu geben, doch möchten wir gern dazu beitragen, daß der Kunstfreund stets in der Lage sei, sicher beurteilen zu können, ob ein Kritiker eine annehmbare oder falsche Kritik geliefert habe, ob die Kritik Vertrauen verdiene oder ob sie hohl sei, und wir wollen deshalb versuchen, einige Gesichtspunkte hier kurz anzudeuten.

(…)

S. 354

Allgemeingültigkeit und Unfehlbarkeit können kritische Urtheile niemals beanspruchen, ebenso wenig wie irgend etwas Anderes, das von Menschen ausgeht, ja gerade um so weniger, als der Urheber derselben durch den beurtheilten Gegenstand selbst in einen psychischen Affect gesetzt wird, als er von diesem subjectiven Boden aus vorzugehen genöthigt ist. Er muss also zugleich Kenner seiner selbst sein, daß er im Stande ist, seinen eigenen Affect klar und deutlich zu erkennen. Sein Seciermesser zerlegt ja nicht den Gegenstand in Theile und Theilchen, es zergliedert nur den Eindruck, den er empfängt; die Ergebnisse dieser Untersuchung stellt er unter allgemeine Gesetze., und begründet sein möglichst Schliches Urtheil. Allerdings wird dasselbe zu einer unbedingten Objectivität, wie gesagt, nie gelangen können, da es nothwendig von der natürlichen Anlage und dem ganzen Bildungsstande abhängig ist. Erziehung, Vorurtheile, Gewohnheiten, ja selbst die Mode sind vom geheimen und stillem Einflusse auf die kunstkritischen Urtheile, und dies erklärt, daß es nicht Ein Kunstwerk giebt, über welches nicht schon sehr verschiedene Urtheile ausgesprochen wären. Man könnte die sonderbarsten Beispiele anführen; und man würde finden, daß in den Urtheilen, die wir als irrthümlich und falsch erkennen, allemal vom Urtheilenden sachliche Momente von entscheidender Bedeutung übersehen worden sind.

Die Grundgesichtspunkte derselben (Anm.: der Kunstkritik)

Um dies zu vermeiden, wird die strenge Beachtung mehrerer wesentlicher Grundgesichtspunkte nützlich sein. Der erste derselben ist der, ob der Gegenstand darstellbar ist. Der Künstler kann einen Mißgriff gemacht, er kann einen Gegenstand, der für die Poesie taugen würde, für die bildende Kunst gewählt haben; und hier ist dann das entscheidende Kriterion dies, ob der Gegenstand durch die Entwickelung in der Zeit bedingt ist, oder ob er durch einen einzigen Augenblick, der räumlich darstellbar ist, klar wird. Der Flug eines Pfeiles lässt sich dichterisch schildern, aber nicht plastisch oder malerisch darstellen. Ob auch der Gegenstand poetisch sei, sowie manches  Andere noch ist ferner hierbei zu untersuchen.

 

Zweitens handelt es sich darum, ob die Darstellung dem Gegenstande angemessen ist, ob er durch dieselbe auch wirklich, wesentlich und ganz zur Anschauung gelangt ist, ob nicht Nebendinge statt des Bedeutenden betont sind. (…)

Drittens kommt dann in Betracht, ob Auffassung und Darstellung dem Wesen der Kunst überhaupt und den Bedingungen der besonderen Kunst, in welcher die Darstellung erfolgte, auch entsprechen. Dieser Gesichtspunkt richtet sich darauf, daß plastische und architektonische Werke nicht malerisch aufgefasst sind, daß etwa das Mögliche bei Weitem nicht erreicht ist.

(…) Es versteht sich, daß die Kritik die Gründe für und wider ruhig und gründlich entwickeln muß, und daß sie keineswegs den Beruf hat, zu tadeln. Ihre Aufgabe ist es, ein gerechtes und gründliches Urtheil zu gewinnen, und es ist ihr nicht verwehrt, anzuerkennen, zu loben und zu rühmen. Und wenn sie aber dennoch gezwungen ist, öfter zu tadeln als zu loben: ist das ihre Schuld? (…) Eine Kritik der Parthenon-Skulpturen, der sixtinische Madonna Rafael’s, der Zerstörung Troja’s von Cornelius kann nicht tadeln, sie muss dem Genius den Zoll der Anerkennung darbringen, – und sie ist doch Kritik! Ja indem sie kritisch die Bedeutung des Genius und seines Werkes untersucht und anerkennt, hilft sie dessen Ruhm fest und sicher zu gründen.

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