Rückblickende Be-Tracht-ungen, die Zweite Salzlandmuseum Schönebeck, Annette Funke
Die Papierschnitte, die während des Heimatstipendiums entstanden sind, zeigen junge Protagonistinnen in altem Gewand und zielen auf Rollenbilder, welche die Ambivalenz und Komplexität zwischenmenschlicher Vereinbarungen wiederspiegeln, die sich in ihren kulturellen Manifestationen im kollektiven Gedächtnis überlagern.
Unter einer romantisch nostalgisch anmutenden Decke offenbart sich das Widersprüchliche und Verzerrte. Moderne Gegenstände mogeln sich in altzeitliche Kulissen und verweisen auf Konflikte zwischen den unterschiedlich kulturell manifestierten Generationen.
Selbstbilder, 2021
Papierschnitt, 84 x 118 cm
Der Papierschnitt „Selbstbilder“ zeigt eine Picknickszene. Zwei Mädchen posieren selbstvergessen für ein Selfie. Während eine Protagonistin das Handy bedient, hält die Andere einen versilberten Spiegel in der Hand. Stand der Handspiegel ehemals für etwas Anrüchiges, das die jungen Mädchen durch die Selbstbeobachtung in ihrer Natürlichkeit verdarb, steht das gepostete Selfie heute im Verdacht, durch den ewigen Vergleich mit all den Anderen im digitalen Netz, das junge Individuum krank zu machen.
Blumenmädchen, 2021
Papierschnitt, 100 x 70 cm
Der Papierschnitt „Blumenmädchen“ zeigt eine Protagonistin, welche in betont lässiger Haltung vor einer städtischen Ruine sitzt, die mit Graffittis besprüht ist. Die Springerstiefel geben Hinweise auf subkulturell geprägte Verbindungen, welche die altertümliche Bekleidung und Attitüde erklären.
Vergangenes wird romantisiert, indem „etwas“ aus seinem geschichtlichen Kontext herausgelöst, neu interpretiert und bewertet wird. Das verarmte, am gesellschaftlichen Rande stehende Mädchen gelingt in diesen Dichtungen zur Schönen, Guten und Heiligen, die Hoffnungen und Sehnsüchte verkörpert.
Unter der Haube, 2021
Papierschnitt, 70 x 100 cm
„Unter der Haube“ zeigt zwei Frauen, eine sitzend und eine hinter ihr stehend, bei der Anprobe vor einem Spiegel in einer Garderobe. Der Moment ist kurz vor dem Aufsetzen einer Haube eingefroren. Beide Figuren blicken den Betrachter des Papierschnittes direkt an.
Diese Szene spielt mit der Redewendung; jemanden unter die Haube bringen. Die unterschiedlichen Hauben im Hintergrund sind einer Schnabelhaube entlehnt, spielen aber mit Attributen aus der Moderne und verweisen auf vielzählige Entscheidungsmöglichkeiten im persönlichen Lebenslauf.
Die Protagonistinnen provozieren Fragen, die im gesellschaftlichen Diskurs verschiedene Antworten finden. Engen Rollenbilder ein oder schenken sie Geborgenheit? Schneiden sie etwas von der Persönlichkeit eines Menschen ab oder formen sie erst eine solche?
Schultertuch I, 2021
Papierschnitt, 50 x 40 cm
Schultertuch II, 2021
Papierschnitt, 40 x 50 cm
„Schultertuch I“ zeigt die Rückenansicht einer Protagonistin. Die Darstellung schneidet das Gesicht ab. Der Blick liegt allein auf dem Blumenmuster des handbestickten Schultertuches. Wäre da nicht der Arm und eine Hand der Protagonistin, die auf etwas in der Ferne weißt, könnte der Papierschnitt ein Relikt des Vergangenen sein.
Die Arbeit korrespondiert mit „Schultertuch II“, ein Papierschnitt, der eine Stickende aus der Perspektive eines Schulterblickes zeigt. Sieht der Betrachtende von dort aus eine aufwändige Auftragsarbeit mit kleinem Nebenverdienst, einen angenehmen Zeitvertreib oder eine Protagonistin, die sich nach Entschleunigung und Selbstwirksamkeit sehnt?
Papierschnitt, 190 x 210 cm
„Auszeit“ zeigt einen meiner Lieblingsorte an der Saale, der für mich Heimat geworden ist. Das Radio und mein Notizbuch begleiten mich bei meinen Auszeiten. Wenn ich liegend in die Wolken schaue, die teilweise von den Blättern der Bäume verdeckt werden, treiben meine Gedanken Blüten, die wenn ich sie pflücken will, verwelken. Alle Geräusche verbinden sich zu einem Schwirren. Ich atme. Ich bin.
„Auszeit“ ist der Versuch einen erinnerten Flow-Zustand, beim verträumten Durchdenken meiner Motive für das Heimatstipendium, bildhaft einzufangen.
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